Ich gehe auf einer unbefestigten Straße. Um mich herum sehe ich Container, die zu kleinen Wohneinheiten geworden sind. Es sind viele, mehr als ich mit einem Blick erfassen kann.
Bei genauerem Hinsehen entdecke ich, dass jeder einzelne Wohncontainer kleine individuelle Züge hat: Vorbauten, Sitzgelegenheiten; bei einem hängt sogar ein Vogelkäfig vor dem Eingang.
Es ist März 2016 und ich bin mit einer Hilfsorganisation im Irak. Wir besuchen unterschiedliche Flüchtlingscamps, führen kreative Workshops mit Frauen durch und kommen mit den Menschen dort ins Gespräch.
Sie erzählen mir von ihrer Flucht, bei über 40 Grad zu Fuß mit Kindern in eine ungewisse Zukunft. Ihren Sorgen und Ängsten, aber auch davon, was ihnen hilft durchzuhalten.
Ich bin tief berührt von ihrer Offenheit und Herzlichkeit. Ein „dennoch“ und „trotz alledem“, was diese Menschen dort leben, wie sie ihren Weg gehen.
Ich komme zurück nach Deutschland mit einem Herzen voller Eindrücke von Lebenswegen, Schicksalen und kostbaren Menschen.
Und bin ermutigt, ein Angebot für geflüchtete Menschen ins Leben zu rufen.
Es fühlt sich fast ebenso an, wie auf einem unbefestigten Weg zu sein. Es gibt noch nicht ausreichend kultursensible Trauerangebote und sie werden so dringend benötigt.
Ich laufe und lerne.
Auf diesem Weg komme ich den verschiedenen Kulturen näher. Wie in den unterschiedlichen Ländern mit dem Thema Sterben, Tod und Trauer umgegangen wird. Ich lerne auch hier kostbare Menschen kennen, höre ihre Geschichten und schließe Freundschaften.
Wie mühselig und gefährlich war ihre Flucht. Was mussten die Menschen alles zurücklassen. Es gibt so viel, was sie betrauern: Heimat, Häuser/Wohnungen, Umfeld, Traditionen, Berufe, Sprache. Besonders schwer wiegt, dass sie Familie und Freunde verloren haben. Viele ihrer geliebten Menschen sind gestorben. Und dennoch wagen sie hier einen Neuanfang, in einem Land, in dem erst einmal alles fremd scheint.
Ich begleite diese Menschen in meiner Praxis und es gibt das kunsttherapeutische Gruppenangebot, die „Farboase“.
Es ist ein Ort, an dem man zur Ruhe kommen darf. Auftanken, aber auch Ballast loswerden. Es wird viel gelacht und auch geweint.
Eine junge Syrerin sitzt vor ihrem Bild, sie hat einen Baum gemalt und sagt: „Die Wurzeln des Baumes haben Schreckliches erlebt. Aber der Baum wächst trotzdem und die Baumkrone hat das Schwere bereits überwunden.“
Hier wird über Sorgen und Kummer gesprochen, aber in der „Farboase“ ist auch Raum für Ermutigung, Wertschätzung und Austausch. Die Teilnehmer erleben: Du bist nicht allein!
Sie malen Bilder, die Erlebtes ausdrücken. Und dort, wo Sprache fehlt, erzählen diese Bilder ihre Geschichten, sie drücken ihre Gefühle aus. „Kerstin, ich bin immer so müde und kann mich gar nicht konzentrieren. Ich fühle mich dumm, weil mir das Deutschlernen so schwerfällt.“ sagt eine andere Frau. Auch sie hat viel verloren und Schreckliches erlebt. Die Trauer drückt sich ganz unterschiedlich aus und es entlastet, zu wissen, dass Trauer auch müde und unkonzentriert machen kann. Trauer braucht einen Raum!
Wie sieht nun eine kultursensible Trauerbegleitung aus?
Mir ist vor allem wichtig, eine offene Haltung der anderen Kultur gegenüber zu haben. Von meinem Gegenüber zu lernen und aufeinander zuzugehen. Aber auch darüber nachzudenken, was meine eigenen kulturellen Wurzeln sind. Was sind meine Werte, Traditionen und gewohnten Rituale.
So kann echte Begegnung stattfinden! Vertrauen wachsen und Unterstützung angenommen werden.
Der Weg ist fester geworden. Ich bin mit einigen Menschen zusammen diesen Weg weiter gegangen. Daraus entstand auch der Verein SHiFT e.V. wodurch es möglich wurde die Angebote weiter auszubauen. Der Bedarf ist groß und ich bin gespannt auf neue Begegnungen mit wundervollen Menschen.
Ich möchte mich weiterhin als Lernende sehen. Das hält mich offen für den anderen.
Mittlerweile bin ich aber auch zu Lehrenden geworden. Ich gebe Workshops und Fortbildungen zum Thema „Trauer und Flucht“ und „Kultursensible Trauerbegleitung“.
Ich möchte andere Menschen einladen, diesen Weg mit mir zu gehen.